Sind Aktien aktuell teuer? Die viel wichtigere Frage ist…
Es regiert die Unsicherheit: Kommt was? Wann kommt es? Wie schlimm wird´s? Börsenbriefe, -zeitschriften, Expertenmeinungen – überall wird vor dem nächsten Crash gewarnt, überall werden vermeintlich „sichere Häfen” angepriesen. Nicht selten mahnen die gleichen Stellen seit Jahren, dass ein großer Einbruch in Kürze bevorsteht. Doch wie verhält es sich nüchtern betrachtet? Um der Antwort auf die Schliche zu kommen, hilft eine kleine mathematische Überlegung
Schalten wir für eine kurze Zeit alle psychologischen Über- und Untertreibungen und das ganze „Infotainment” der Medien (teils Information, teils reisserische Unterhaltung) ab, dann sehen wir, dass der Wert einer Aktie vom Wert des entsprechenden Unternehmens abhängt. Der Wert des Unternehmens für den Aktionär hängt wiederum davon ab, welche Rückflüsse er über die Zeit erhält. Gehen wir (idealtypisch) davon aus, dass das Unternehmen jedes Jahr konstante Überschüsse erwirtschaftet und diese gleich an den Aktionär ausschüttet, so berechnet sich der Unternehmenswert bei einem endlosen Betrachtungszeitraum wie folgt:
Unternehmenswert = Ausschüttung/Kalkulationszins
Der „richtige” Kalkulationszins ist in der Regel schwer zu ermitteln und oft diskussionswürdig – das soll aber hier nicht das Problem darstellen. Gehen wir zur Vereinfachung davon aus, dass sich für dieses Unternehmen der richtige Kalkulationszins aus der EZB Einlagefazilität (siehe Fussnote) und einem Risikozuschlag von 5 % zusammensetzt. Erwirtschaftet das Unternehmen bspw. dauerhafte Überschüsse (=Ausschüttungen) von 100 EUR, so läge der Unternehmenswert aktuell (Einlagefazilität der EZB am 15.11.2017 = -0,4 %) nach obiger Formel bei ca. 2.174 EUR (=100/(-0,4%+5%)).
Wäre das gleiche Unternehmen mit den gleichen Überschüssen vor 10 Jahren (Ende 2007) bewertet worden, so hätte sein Unternehmenswert lediglich bei 1.250 EUR gelegen, da damals die EZB Einlagefazilität bei 3 % lag. Alleine durch diese Absenkung des Zinsniveaus steigt der rechnerische Unternehmenswert um ca. 74 %, da die zukünftigen Ausschüttungen wertvoller werden. Dazu sind noch nicht einmal psychologische Übertreibungen nötig.
Und was haben die Aktien seit Ende 2007 gemacht (inkl. Crash in Folge der Finanzkrise)? Am Beispiel des deutschen Leitindex DAX lässt sich eine Steigerung von ca. 67 % seit Ende 2007 ablesen. Was heisst das nun für die Ausgangsfrage? Sind Aktien aktuell teuer oder sogar günstig? Nun, die Antwort dürfte selbst für den größten Experten kaum zu ermitteln sein, da solche Fragen immer nur rückblickend beantwortet werden können. Jedoch hatten wir Ende 2007 eine ähnliche Situation: Es ging mehrere Jahre kontinuierlich bergauf. Zwischenzeitlich ging es auch wieder steil bergab – nicht selten minus 50 %. Und trotz dieser herben vorübergehenden Buchverluste steht nach 10 Jahren ein Plus von ca. 67 %. War es also ein Fehler, Ende 2007 in Aktien einzusteigen? Sicher, ein Einstieg Anfang 2009 wäre um Längen besser gewesen – aber verpasst man während des (vergeblichen) Wartens auf den richtigen Einstiegszeitpunkt – trotz zwischenzeitlicher Krisen – nicht eine erfreuliche Langfristentwicklung? Durchschnittlich 6 bis 7 % pro Jahr sind auch ein ordentlicher Wert.
Kurzfristig sind Aktien oftmals ein Glücksspiel: Erwischt man einen besonders günstigen Einstieg, so winken sehr hohe Gewinne, erwischt man einen besonders schlechten, so drohen riesige Verluste. Langfristig verblasst der Einfluss des Einstiegszeitpunkts: Mit viel Glück erzielte man auf sehr lange Sicht eine Rendite (Beispiel DAX) von ca. 13 % pro Jahr, mit viel Pech „nur” 6 % (vergleiche Studie des Deutschen Aktieninstituts DAI, Seite 9, Abbildung 2).
Entscheidend für Anleger sollte daher nicht die Frage „Ist aktuell der richtige Einstiegszeitpunkt?”, sondern vielmehr die Überlegung „Kann und will ich im Notfall (zwischenzeitlicher Crash) die Aktien auch längere Zeit (bis zur nächsten Erholung) halten?” sein. Diese Frage beantwortet Ihnen kein Börsenbrief und kein Experte – das muss jeder für sich selbst entscheiden. Aktien können stark im Wert schwanken, aber wenn es „hart auf hart” kommt, dann hält man Anteile an realen Sachwerten (Unternehmen, Gebäude, Maschinen, …) – wohingegen Sparbuchanleger am Rückzahlungsversprechen ihrer Bank kleben, gespeichert als Nullen und Einsen im virtuellen Raum. Langfristig dürfte die schlechteste Entscheidung also nicht sein, gerade einen unglücklichen Einstiegszeitpunkt zu erwischen (siehe DAX „nur” 6 % pro Jahr). Die schlechteste Entscheidung ist oft, überhaupt nicht einzusteigen
Einlagefazilität: Die Einlagefazilität ist ein geldpolitisches Instrument des Eurosystems, das den Banken ständig die Möglichkeit bietet, Geld bis zum nächsten Geschäftstag zu einem vorgegebenen Zinssatz bei den nationalen Zentralbanken anzulegen. Der Zinssatz für die Einlagefazilität bildet die Untergrenze für den Tagesgeldsatz am Geldmarkt und ist somit einer der Leitzinsen des Eurosystems (Definition der Deutschen Bundesbank).